Archäologen rätseln
Lebte in Schwaben das erste Kulturvolk?
Von Marc Herwig
Dass die Schwaben pfiffig sind, war den Menschen auf der Alb schon immer klar. Aber dass vor 35.000 Jahren ein «Ur-Schwabe» die Musik und sein Höhlen-Nachbar die darstellende Kunst erfunden haben, das mussten Archäologen erst mühsam rekonstruieren.
Vielleicht sind sogar erste Religionen auf der Alb entstanden. Nach allem, was die Wissenschaftler im Moment wissen, lebte im heutigen württembergischen Landesteil jedenfalls das erste Kulturvolk der Welt.
International renommierte Archäologen vertreten diese These. Immerhin stammt die älteste weltweit gefundene Flöte aus der Geißenklösterle-Höhle bei Blaubeuren (Alb-Donau-Kreis). Und die älteste je gefundene figürliche Darstellungen - ein 3,7 Zentimeter großes Mammut - lag in der Vogelherdhöhle im Lonetal (Kreis Heidenheim). Dies belege die Vorreiterrolle dieser Steinzeitmenschen, so sagen Experten weltweit.
Der Tübinger Urgeschichtler Nicholas Conard ist allerdings etwas vorsichtiger. Die aufsehenerregenden Funde bei Grabungen auf der Alb hätten viele Wissenschaftler «schwabozentrisch» werden lassen, sagt er. Dabei sind es nicht zuletzt die Entdeckungen seines Teams, die die Schwäbische Alb ins Zentrum der Archäologie gerückt haben. «Die ältesten Musikinstrumente wurden definitiv hier gefunden», räumt Conard ein. «Aber das lässt zwei Schlüsse zu: Entweder, die Schwaben haben die Musik erfunden - oder es gab damals auch anderswo Musikinstrumente, die bislang bloß niemand ausgegraben hat.»
Conard will nicht so recht an die Einzigartigkeit glauben. Funde aus der Steinzeit seien im kalkhaltigen Gestein der Schwäbischen Alb womöglich nur besser erhalten geblieben als anderswo. Außerdem seien Archäologen schon seit 150 Jahren auf der Schwäbischen Alb unterwegs, so dass die Region zu den am besten erforschten weltweit zähle.
Auch wenn Conard also den Superlativ meidet, so waren die Menschen auf der Schwäbischen Alb ohne Zweifel zumindest ziemlich früh dran mit ihrer kulturellen Entwicklung. Doch weshalb entwickelte sich die Kultur ausgerechnet in dieser Region so früh? Besonders gemütlich hatten es die Menschen in ihren Höhlen am Vogelherd vor 35.000 Jahren jedenfalls nicht. Draußen herrschten eisige Temperaturen, die Landschaft ähnelte dem heutigen Sibirien.
Trotzdem schufen ausgerechnet die Menschen in dieser unwirtlichen Gegend Kunstwerke, die selbst aus heutiger Sicht keineswegs primitiv sind. «Natürlich kann ich meinen Nachwuchs nicht plötzlich besser ernähren, weil ich Kunst habe», erläutert Conard. «Aber durch die Kunst entstehen größere soziale Netzwerke. Außerdem lernt man bei der darstellenden Kunst, die Natur genauer zu beobachten, zu adaptieren und so zu nutzen.» Das könnte der entscheidende Vorteil der modernen Menschen gegenüber dem Neandertaler sein, der etwa zu dieser Zeit ausgestorben ist.
Im Sommer wollen der Tübinger Wissenschaftler wieder ins Gelände. Vor allem in der Vogelherdhöhle und im Hohlefels bei Blaubeuren soll gegraben werden. In diesem Jahr interessiert Conard besonders, was die Steinzeitmenschen zum sozialen Kulturmenschen werden ließ. War es die Auseinandersetzung mit den Neandertalern, die sie in stärkere soziale Strukturen zwang? War es die Kälte, die eine intensive Beschäftigung mit der Natur erforderte? «Man weiß vorher nie, was man finden wird», sagt der Archäologe. «Ich grabe - und dann nehme ich die Dinge so, wie sie kommen.»
Quelle: http://www.news.de/gesellschaft/75402394...e-kulturvolk/1/