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Lag hier das Paradies?

in News-Ticker 01.12.2011 19:00
von Natty • 61 Beiträge

Lag hier das Paradies?

Eine Reise zum Ursprung der Zivilisation: Im südöstlichen Anatolien wird die älteste Siedlung der Menschheitsgeschichte ausgegraben

Sollten türkische Tourismusexperten irgendwann einen neuen PR-Gag suchen und behaupten, das Paradies habe in Südostanatolien zwischen Euphrat und Tigris gelegen, so gäbe es für diese These gute Gründe. Wenn der Garten Eden ein realer Ort war, dann spricht einiges dafür, dass er sich an den Hängen des Taurus und Zagrosgebirges befand. Dass Göbekli Tepe, der „Nabelberg“, nahe Urfa, dem vermutlichen Geburtsort Abrahams, in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielte, ist ebenfalls möglich. Diese faszinierende Grabung, wo man die ältesten Bauwerke der Menschheit von 10.000 v.Chr. zu Tage fördert, wirft bisherige wissenschaftliche Lehrmeinungen über den Haufen.

Denn nach herrschender Ansicht waren Jäger und Sammler zu dieser Zeit noch gar nicht in der Lage, Tempel oder frühe Städte zu errichten. Dies wird erst einer sesshaften Bevölkerung ab zirka 7000 v.Chr. zugebilligt, zum Beispiel in Catal Hüyük, der ältesten Stadt der Welt. Göbekli Tepe widerlegt diese These.

Land des Lächelns

Die heutigen Bewohner von Südostanatolien wissen wenig von dem neolithischen „Land des Lächelns“ in ihrem Gebiet. Für sie ist die öde Landschaft der ärmste Landstrich der Türkei. Doch das ändert sich. Große Teile dieses Gebietes erleben derzeit einen Boom, der für die Bewohner durchaus paradiesische Züge trägt. Eine Landflucht wie im Europa des 19. Jahrhunderts lässt Städte explodieren, die wie Gaziantep in zwanzig Jahren ihre Einwohnerzahl verdoppelt haben. Ein Vorratsbau an leer stehenden Wohnhochhäusern findet sich am Rande jeder Stadt. Seit neuestem gedeiht hier Baumwolle, was große Mengen Wasser voraussetzt. Die scheinbar unfruchtbare Landschaft ergrünt, das Resultat einiger Staudämme im Bereich des unteren Euphrat und Tigris. Der Atatürkstaudamm bewässert allein ein Gebiet von zirka 1,7 Millionen Hektar. Sein Wasser in großen Tunneln weit ins Land geführt und ermöglicht eine Landwirtschaft, die es hier über Jahrtausende nicht mehr gab. Die Nachteile der Staudämme: Sie stehlen Syrien und dem Irak riesige Wassermengen, Böden können versalzen, das Klima sich verändern. Weltweit einzigartige Ausgrabungen wie die frühneolithische Siedlung von Nevali Cori aus der Zeit 8600 bis 8000 v. Chr. werden überflutet. Ein Paradies mit Fehlern also.

Das Gebiet des Fruchtbaren Halbmondes, zu dem Südostanatolien gehört, ist immer Durchgangs- und Siedlungsland gewesen. Vor allem aber ist es eine biblische Landschaft und ein Kraftfeld von mythischem Gewicht. Wer also nach den konkreten Koordinaten des Paradieses von Bibel und Koran sucht, dessen Forschungen versprechen hier gute Ergebnisse.

In der Bibel (Genesis 2, 10-14) wird die Lage des Garten Eden folgendermaßen beschrieben: „Und es ging aus von Eden ein Strom, den Garten zu bewässern, und teilte sich von da in vier Hauptarme. Der erste hieß Pisch...Der zweite Strom heißt Gihon... der dritte ... Tigris... der vierte Strom ist der Euphrat“. Nach einem Vergleich mit islamischen Schriftquellen und modernen Landschaftsnamen der Türkei und des Iran kommt der Brite David Rohl zu der Vermutung, dass Gihon und Pischon den heutigen Flüssen Araks und dem iranischen Kisil Usen entsprechen. Allerdings geht er von der Lage des Paradieses nicht auf türkischen Boden aus, sondern sucht es am Urmiasee im Nordiran.

Die Bibel ist für ihren Rückgriff auf ältere Quellen bekannt. Vielleicht ist ja die Geschichte vom Paradies eine uralte historische Tatsache. Nach Meinung von Wissenschaftlern könnte sie die schwierige Situation vom Übergang der Jäger- und Sammlergesellschaft zur Sesshaftigkeit des Menschen spiegeln. Diese Entwicklung dürfte über lange Zeit und nicht ohne Kämpfe abgelaufen sein. Das biblische Bild dafür könnte der Konflikt zwischen Kain, dem Bauern, und Abel, dem Viehzüchter, sein, und ihr Streit die reale Situation zwischen 9000 bis 6000 v.Chr. wiedergeben.

Alles Vermutungen, keine Tatsachen. Treibt man das Paradiesrätsel noch weiter, dann stellt sich Eden als die Situation nach dem Ende der Eiszeit um 12.000 v.Chr. im Fruchtbaren Halbmond dar. Fauna und Flora gedeihen in nie gekannter Fülle, Jäger durchstreifen die Üppigkeit und legen nachgewiesenermaßen gebaute, durchlüftete Depots an, um die reichen Fleischmengen ihrer Jagd aufzubewahren. Irgendwann ist das Paradies jedoch am Ende, der natürliche pflanzliche und tierische Reichtum erschöpft, Hunger zwingt den Menschen, selbst Korn anzubauen und Haustiere zu züchten. Er wird sesshaft. Wissenschaftler haben bewiesen, dass dies im Bereich des Fruchtbaren Halbmondes früh der Fall war. Alle Wildformen von Kulturpflanzen und frühen Haustieren kamen hier vor. Lag also hier das Paradies? Ist die Vertreibung Adams und Evas aus ihrem Garten das Ende einer Epoche, um danach im „Schweiße ihres Angesichtes“ eine neue Phase gesellschaftlicher Entwicklung zu beginnen?

In Göbekli Tepe setzen sich die Fragen fort. Wer waren die Erbauer, wie schafften sie mit ihren primitiven Werkzeugen die präzisen Denkmale, wie organisierten sie deren Bau, welchen Sinn und Funktion haben die weltweit einzigartigen Bauwerke? Wirklich gesichert ist nur ihr Alter: 10.000 bis 9.000 v.Chr.

Die seit 1994 aktive Grabung unter Leitung von Klaus Schmidt kommt nur langsam voran. Es fehlt Geld. Bisher sind vier der über vierzig Steinkreise mit einem Durchmesser von 10 bis 30 Metern ausgegraben. Die teilweise sechs Meter hohen Steine, von den Ausgräbern als stilisierte Menschen gedeutet, umstehen zwei weitere Pfeiler in ihrer Mitte. Die Steinkreise sind ohne Dach, alle Pfeiler ruhen auf sorgfältig geschliffenen Terrazzoböden. Vor einigen Steinen findet man Schalen im Fußboden, manche Kreise haben einen gemauerten Zugang.

Alle Steine zeigen Reliefs von Tieren: Füchse, Kraniche, Schlangen. Es gibt auch Vögel mit menschlichem Kopf oder eine janusköpfige Statue. Die wenigen anthropomorphen Abbildungen sind vorwiegend männlich mit erigiertem Penis. Erst in jüngeren Schichten findet sich das Relief einer nackten, kauernden Frau mit großen Schamlippen.

Plausible Erklärungen hat Klaus Schmidt weder für die Bauten noch den figurativen Schmuck in Göbekli Tepe. Die Tatsache, dass es eine komplexe Organisation für die jungsteinzeitliche Bevölkerung bedeutete, diese Bauwerke zu bearbeiten und die 10 bis 20 Tonnen schweren Steine aus dem nahen Steinbruch an ihren Standort zu transportieren, ist kaum zu erklären. Mindestens 500 Menschen waren über einen langen Zeitraum nötig, diese bauliche Sensation zu errichten und zu hüten.

Treffpunkt der Schamanen

War Göbekli Tepe ein Treffpunkt der Schamanen? Die schiere Größe lässt auf einen kultisch wichtigen Ort schließen. Oder war dies, was überzeugender scheint, das Monument eines Totenkultes? Dafür spricht, dass die abgebildeten Tiere in aggressiver Haltung dargestellt sind. Sollten sie als apotropäische Zeichen Gefahren abwehren? Dagegen spricht, dass keine Gräber gefunden wurden und keine kultisch benutzten menschlichen Schädel wie anderswo im näheren Umkreis. Oder sind die Steinkreise die „ersten Tempel“ der Menschheit, wie Schmidt vorschlägt? Das könnte die These des Baugeschichtlers Lewis Mumford stützen, wonach Tempel lange vor der Stadt da waren und nicht umgekehrt. Um 7500 v.Chr. versiegen die Quellen. Göbekli Tepe wird verlassen. Die Heiligtümer werden regelrecht bestattet. Man ummauerte die Steinkreise und füllte sie mit Sand. Vielleicht waren die Lebensgrundlagen der Region erschöpft, die Jäger mussten weiter ziehen, wollten ihr Heiligtum aber erhalten.

Die Deutung von Göbekli Tepe als Ort einer bisher nicht entschlüsselten Religion hat etwas für sich. Einige Wissenschaftler vermuten hier die Heimat der sumerischen Anunnagötter, uralte Gottheiten ohne Namen aus einer Zeit lange vor den individuell benannten sumerischen Göttern. Was immer das Geheimnis dieses einzigartigen Ortes ist, eines ist sicher: Zu dem Zeitpunkt, als hier ein Kult gefeiert wurde, gab es noch nirgendwo auf der Welt eine große Siedlung oder gar eine Stadt.

Ingeborg Flagge, Jahrgang 1942, lebt als Architekturpublizistin in Bonn. Sie war Professorin für Baugeschichte und Geschäftsführerin des Bundes Deutscher Architekten. Von 2000 bis 2005 war sie Direktorin des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt.


Quelle: Frankfurter Rundschau


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