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Germanen, Gräber, Gastransporte

in News-Ticker 10.10.2011 14:35
von Natty • 61 Beiträge

Germanen, Gräber, Gastransporte

Entlang einer Pipeline-Trasse durch Norddeutschland arbeiten Archäologen an der längsten Ausgrabungsstätte des Landes.

Überraschend stammen einige Funde aus einer Region, von der die Forscher dachten, sie sei damals unbesiedelt gewesen.


Schlicht und doch spektakulär ist die 12 000 Jahre alte gravierte Frauengestalt aus der Eiszeit

Zur Weiterleitung russischen Gases aus der Ostseepipeline ("Nord-Stream") werden in Deutschland über 1000 Kilometer Rohre im Boden verlegt. Zuvor nehmen Archäologen die Trasse unter die Lupe. Es ist eines der größten archäologischen Projekte, die es jemals gab. Mit dabei ist Henning Haßmann. Der niedersächsische Landesarchäologe schwenkt mit seinem nicht mehr ganz jungen Mercedes-Kombi bei Syke von der Landstraße auf eine holprige Piste in den Wald und parkt sein Auto am Ackersaum. Einige Meter über einen Trampelpfad weitergegangen steht er an seinem größten Projekt: Mit einer Gesamtfläche von circa sieben Quadratkilometern, schwärmt der Archäologe, übertrifft es vergangene Grabungen in Niedersachsen bei Weitem. Es ist ein planierter, 400 Meter langer, 30 Meter breiter Streifen, der von einer Abraumhalde begleitet wird. Kilometerweit schlängelt sich die Schneise - noch an einigen Stellen unterbrochen - durch die norddeutsche Tiefebene.

Ende 2012 wird davon nicht mehr viel zu sehen sein. Lediglich gelbe Pfosten markieren dann den Verlauf der Nordeuropäischen Erdgasleitung, kurz "NEL", im Untergrund. Befüllt wird die NEL mit Gas aus der Nord-Stream-Pipeline, die über 1200 Kilometer vom russischen Wyborg über den Grund der Ostsee bis Lubmin am Greifswalder Bodden führt. Von dort fließt ein Teil durch die NEL über 440 Kilometer, südlich an Hamburg und Bremen vorbei, ins niedersächsische Rehden, wo es gespeichert und in das bestehende Leitungsnetz eingespeist wird. 55 Millionen Kubikmeter Gas sollen pro Tag durch die NEL fließen, ein Fünftel des deutschen Erdgasbedarfs. Eine zweite Leitung, die "Opal", führt von Lubmin nach Tschechien. Dort läuft bereits der Testbetrieb.

Seit November 2010 laufen die Untersuchungen an der NEL. Allein auf den 200 niedersächsischen Trassenkilometern sind sechs Grabungsfirmen und über 100 Mitarbeiter beschäftigt. Doch statt zwischen Überlandleitungen, sanften Hügeln und Windrädern übers Land zu schweifen, sitzt Haßmann einen Gutteil seiner Zeit am Schreibtisch und wälzt Akten, Karten und Datenbanken. Stellen, an denen bereits früher Funde zutage getreten sind, weisen er und seine Kollegen in den Kreisen und Städten als Verdachtsflächen aus. Da darf nur gebaut werden, wenn sie vorher kontrolliert worden sind. Das muss nicht immer gleich eine ganze Ausgrabung sein, meist reichen Begehungen, geophysikalische Sondierungen des Untergrundes oder die Beobachtung der aktuellen Erdarbeiten.

In Niedersachsen bezahlt das alles üblicherweise der Steuerzahler. Jedoch nur, was nach dem Gesetz zwingend vorgeschrieben ist. Das heißt auch: ohne Verdacht keine Voruntersuchung, ohne Funde keine Grabung. Bei der NEL aber sind die Archäologen auch dann vor Ort, wenn sie nicht unbedingt mit Funden rechnen. "Hart prospektieren", nennt Haßmann das. Die Kosten dafür haben die Bauträger übernommen. Die Archäologen erschließen nun auch solche Flächen, an denen sie eigentlich nicht mit Relikten aus dem Altertum rechnen. Dadurch wird verhindert, dass später unvorhergesehene Funde den Bauablauf verzögern. Die Pipeline kostet immerhin rund eine Milliarde Euro.

Sobald ein Bagger den Oberboden an einer Stelle abträgt, prüfen die Grabungstechniker den Grund. Verfärbungen an der Oberfläche sind für sie der wichtigste Hinweis, dass sich darunter Gruben, Gräber oder Pfostenlöcher verbergen. Wie dann zu verfahren ist bestimmt der Archäologe vor Ort. Meist werden Verfärbungen "geschnitten", wobei zunächst die erste, dann die zweite Hälfte des gefärbten Areals schichtweise abgetragen wird. So entsteht inmitten der Fundstelle ein Querschnitt, in dem sich Schicht für Schicht der Aufbau des Fundes dokumentiert. Bei umfassenden Fundstellen, wie bei Syke, entstehen so schachbrettmusterartige Felder - häufig ineinander verschachtelt und abgestuft.

Außer diesem gründlichen Vorgehen bestimmen die Größe des Rohres und die Breite der Trasse die ungewöhnlichen Dimensionen. Bei der letzten Pipelinegrabung in Niedersachsen, der "Jagal" von Stade nach Teutschenthal, hatten die Rohre Durchmesser von etwa 80 Zentimetern, und der Versorgungsstreifen maß 15 Meter. Diesmal sind Rohre und Baugelände fast doppelt so groß.

Schon jetzt haben Grabungsarbeiter auf dem niedersächsischen Abschnitt unzählige neue Fundstellen entdeckt. Allein aus der Germanenzeit nach Christi Geburt stießen sie auf fünf neue Friedhöfe mit Hunderten von Urnen. Auch bei Syke liegt so ein Gräberfeld. Manche der Gräber, so Haßmann, waren reich ausgestattet mit Silbermünzen und römischen Bronzegefäßen. Man habe sogar "Hemmoorer Eimer" gefunden. In solchen, aus dem römischen Reich importierten Bronzekesseln wurde ursprünglich Wein serviert. Andere Gräber mit aufwendig verzierten Gefäßen und je einer Flintklinge oder einem Beil stammen aus der Jungsteinzeit von vor 4000 Jahren. Sie waren ursprünglich überhügelt.

Außer den Gräbern sind vor allem Siedlungen und Gehöfte von der Bronzezeit bis ins Mittelalter aufgeschlossen worden. Eine kleine Sensation war der Fund der "Venus von Bierden" im August: Ein eiszeitliches Werkzeug, auf das mit wenigen Strichen eine nackte Frauengestalt eingeritzt ist. "Nelly", wie das Grabungsteam unter der Leitung von Klaus Gehrken die Darstellung taufte, ist ein flacher Stein von etwa fünf mal acht Zentimeter, der vor über 12 000 Jahren dazu diente, Feuersteine zu schärfen. Der Eiszeitkünstler deutete den Schambereich an, stellte mit einer Linie das Gesäß und mit zwei weiteren spitz zulaufenden die Beine dar. Füße und Kopf der Abbildung fehlen. Es ist der erste Fund einer eiszeitlichen Frauendarstellung im norddeutschen Tiefland. Sie fand sich zusammen mit Feuersteinmesserchen, Pfeilspitzen und einer Feuerstelle, deren Alter in den kommenden Wochen bestimmt werden soll.

In Mecklenburg sind derzeit noch sieben Grabungsteams mit 130 Mitarbeitern für die NEL im Einsatz. Für die Unterwasserleitung mussten Taucher mit Spezialsaugern im Greifswalder Bodden einige Wracks freilegen und versetzen, um so Platz zu schaffen. Die Schiffe sind 1715 im großen nordischen Krieg von der schwedischen Marine versenkt worden. Manche haben sie lediglich unter Wasser "verschoben", einen kleinen Kahn jedoch Planke für Planke auseinandergebaut und an Land gebracht.

Ein Teil der Funde aus Mecklenburg-Vorpommern wird nun in Schloss Güstrow bei Schwerin in der Ausstellung "Pipeline-Archäologie" der Öffentlichkeit präsentiert. Darunter sind auch ein Feldtelefon aus dem Zweiten Weltkrieg und Überreste eines US-Kriegsgefangenenlagers aus dem Jahr 1945 im Landkreis Ludwigslust. Dieses bestand nur drei Wochen und beherbergte mindestens 30 000 Wehrmachtangehörige sowie Tausende von Flüchtlingen.

Bis die Inhalte der Abfallgruben bestimmt, Alter, Geschlecht und Gesundheitszustand der Toten in den Gräbern ermittelt und die unzähligen Messdaten zu Karten und Landschaftsmodellen verschmolzen sind, werden wohl noch Jahrzehnte vergehen. Momentan muss der Schatz an Informationen, der zerstört zu werden droht, erst einmal gerettet werden. Vor allem südlich von Hamburg wird die Leitung durch ein Gebiet mit vielen Großsteingräbern führen.

Nur selten sind Sensationen wie die "Venus von Bierden" dabei, sagt Haßmann. Für ihn als Wissenschaftler ist es aber schon erstaunlich genug, wenn er auf "Hemmoorer Eimer" oder reihenweise auf Dörfer der Völkerwanderungszeit stößt. Die fehlten bislang. Unter anderem deshalb war man davon ausgegangen, dass Niedersachsen damals fast siedlungsleer war. Aber an noch einem Punkt werden die Archäologen umdenken müssen. Und das lässt den Archäologen die Stirn runzeln. Durch die "harte Prospektion" so Haßmann, "treffen wir an solchen Stellen auf Funde, wo wir überhaupt nicht mit ihnen gerechnet hatten." Norddeutschlands Boden birgt offenbar weit mehr Schätze als vermutet. Künftig wird er Bauprojekte deswegen noch genauer prüfen müssen.


Quelle: WELT ONLINE


ARCHÄOLOGEN: Leute deren Laufbahn in Trümmern liegt.

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